Zwischen Wissenschaft und Armenmedizin

Die Rekonstruktion der Lüderitz-Familiengeschichte (Übersicht - Teil 3)

Wissenschaftler haben eine spezifische Sicht auf diese Welt, d.h. eine eher wissenschaftlich-verengte Perspektive, und Carls Wissenschaft war das erste, was uns auffiel als wir seine Fährte aufnahmen und anfingen über ihn zu recherchieren: neben seiner gelegentlich zitierten Arbeit (1) gab es ein paar weitere zum Thema Darmmotorik, aber auch anderes - zur Mikrobiologie (Bakterien) und zur Kreislaufphysiologie - alle zehn Jahre und später nach seinem Umzug nach Berlin publiziert, nach 1889. Das heißt für Eingeweihte, jedenfalls nach heutigem Standard, dass die Daten erst in der Zeit in Berlin erhoben wurden, und das wiederum, dass sie aus einem experimentell entsprechend ausgestatteten Forschungslabor stammen müssen und nicht aus dem Hinterzimmer einer Arztpraxis (wie bei "Dr. Mabuse"); und in der Tat trugen einige dieser Arbeiten den entsprechenden Vermerk "Aus dem physiologischen Institut zu Berlin" und "Aus dem hygienischen Institut der Universität Berlin", allerdings - anders als heutige Praxis - mit Carl Lüderitz als dem einzigen Autor, einige Arbeiten tragen den Vermerk "Dr. Carl Lüderitz, praktischer Arzt in Berlin". In einem separaten Kapitel werden wir versuchen, die wissenschaftlichen Leistungen Carl Lüderitz zu würdigen.

Ausgehend von diesen Veröffentlichungen war es das naheliegendste, zunächst die genannten Institute und ihre Archive zu kontaktieren, ebenso das Archiv der (nunmehrigen) Humboldt-Universität, denn immerhin handelt es sich um das Hygiene-Institut des Robert Koch (1843-1910), der 1885 nach Berlin berufen worden war, und um den Lehrstuhl des Physiologen Johannes Gad (1842-1926) – zwei akademische Größen dieser Zeit, deren Namen noch heute Klang haben. Insbesondere das Robert-Koch-Institut, das aus dem 1891 gegründeten und nicht zur Universität gehörigen Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten entstanden war und das Robert Koch leitete, hat alle Aktivitäten rund um das Institut penibel, sollte man meinen, dokumentiert, doch wurde beispielsweise zum Abschied von der Universität 1891 Robert Koch ein Fotoalbum aller Mitarbeiter des Instituts überreicht – aber Carl Lüderitz war nicht dabei (6). Auch in den Annalen des Gad-Instituts findet sich kein Hinweis auf einen Mitarbeiter Carl Lüderitz, auch wenn Lüderitz ihm in einer Arbeit für die Unterstützung dankte, und Gad in einer eigenen Arbeit Lüderitz zitierte. Und auch das Archiv der Universität und das Institut für Geschichte der Medizin an der Universität kannten ihn nicht.

Also packten wir das Problem von der anderen Seite an, und setzten unsere Forschungen fort mit der Suche nach dem praktischen Arzt Dr. Carl Lüderitz in Berlin im Jahr 1882. Hier lernten wir (PE, MS) zum ersten Mal den Nutzen der historischen Adressbücher kennen, insbesondere wenn sie, wie in Berlin, seit 1819 kontinuierlich Jahr für Jahr herausgegeben wurden und inzwischen komplett in digitaler Form zur Verfügung stehen (https://digital.zlb.de/viewer/cms/141/). Carl Lüderitz war ab dem Jahr 1882 mit fast jährlich wechselnden Adressen im Süden der Stadt schnell gefunden. Ab 1890 erscheint er am Mariannenplatz 8 im Stadtteil Luisenstadt (heute: Kreuzberg) (Abbildung 3) mit einer dauerhaften Adresse für seine Praxis, wo er bis 1907 blieb: "Lüderitz, C:, Dr. med., prakt. Arzt etc., SO Mariannenplatz 8, 8 - 9, 4 - 5" - letzteres die täglichen Sprechzeiten. Das Haus gehörte zeitweilig zum Diakonissenhaus Bethanien, welches gegenüber ein Krankenhaus betrieb. Unter der gleichen Adresse wohnten weitere Ärzte (Gärtner, Otringer, Rose). Rose (Prof. emeritus) war ehemaliger Leiter der Chirurgie des Diakonissenkrankenhaus Bethanien. Hier, so spekulierten wir, könnte Carl seine experimentellen Arbeiten durchgeführt haben, aber das erwies sich als Trugschluss.
Aus der Zeit um 1888 stammt auch das gemalte Portrait von ihm im Rahmen der gesamten Familie Lüderitz; die Geschichte dieses Bildes wird ein andermal erzählt.

Abb. 4 rechts im Bild Carl Lüderitz

In diesen ersten zehn Jahren seiner Berliner Zeit finden wir Carl gelegentlich auf wissenschaftlichen Kongressen in Berlin, aber ob er selbst Vorträge gehalten hat, ist eher fraglich. Immerhin wurde ihm auf einer Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Classe von 1889 (Untersuchungen über die Zersetzung des Eiweißes durch anaerobe Spaltpilze) von Marceli Nencki (1847-1901), einem polnischen Chemiker und Arzt, der um diese Zeit in Bern in der Schweiz forschte, ausdrücklich gedankt für die Überlassung der Bakterienstämme, die Carl entdeckt hatte; einige dieser zu den Clostridien zählenden Bakterienstämme waren seinerzeit mit der Namenserweiterung Lüderitz versehen: Bact. liquefaciens-parvus, B. radiatus, B.solidus, B.spinosus.

Nach 1892 endet das Engagement von Carl in der Wissenschaft – abrupt, vollständig und endgültig. Wir können nur vermuten, dass er sich zehn Jahre Zeit gegeben hatte eine akademische Position zu erlangen und deswegen auch "gratis" an den universitären Instituten arbeitete; sich sogar möglicherweise Laborzugang und -zeit erkaufte, in der Hoffnung, mit solchen Vorleistungen eine Chance zu bekommen. Warum es am Ende nicht geklappt hat, kann daher nur vermutet werden - hier ein paar Ideen: Er hätte mit Nothnagel nach Wien gehen sollen, wollte aber nach Berlin zu seiner Familie, oder er hätte nach Wien gewollt, aber Nothnagel konnte oder wollte ihn nicht mitnehmen; er hätte mehr und früher experimentieren und schreiben müssen, um den Erwartungen gerecht zu werden, aber er musste auch seinen Lebensunterhalt verdienen (s. unten); er war am Ende doch mehr Arzt als Wissenschaftler, wollte Patienten sehen und nicht Labortiere; er war seinem großen Vorbild Nothnagel einfach nicht gewachsen und hat dies eingesehen; oder steckte am Ende gar eine Frau dahinter, dass er zurück nach Berlin wollte?

Die Überraschung kam diesmal nicht während der systematischen Recherche, sondern eher zufällig beim Surfen im Netz: Irgendwann tauchte der Name Carl Lüderitz nicht nur im Einwohnerverzeichnis und im Straßenverzeichnis eines Berliner Adressbuches auf, sondern dort weiter vorn auf den "amtlichen Seiten", die staatliche und lokale Behörden und ihre Mitarbeiter auflisten, Schulen, Vereine, Kirchen und Verbände: Dort fanden wir Dr. med. Carl Lüderitz als amtlich bestellten "Armenarzt", und nicht nur in einem Jahr, sondern fast in seiner gesamten Berliner Zeit von 1883 bis 1903, wo auch immer er seine Praxis hatte. Er war ebenfalls als Säuglingsarzt registriert, und Vertreter der Ärzteschaft in der Armenkommission, die die Aufgaben der Armenärzte und deren Verteilung regelte. Die Armenärzte waren in einem Verein organisiert, der sich um ihre Belange kümmerte (7).

Berlin hatte 1885 insgesamt etwa 1,3 Millionen Einwohner. Die Stadt war unterteilt in 326 Armenarzt-Bezirke in den verschiedenen Stadtteilen, die von insgesamt 63 Armenärzten betreut wurden, hinzu kamen eine Reihe von Spezialärzten (Augenärzte, Kinderärzte), die nur gelegentlich konsultiert wurden. Diese Armenarzt-Bezirke hatten sehr unterschiedliche Einwohnerzahlen, je nach "Dichte" der armen Bevölkerungsanteile: diese war im Norden größer (Moabit, Wedding - hier war ein Armenarzt für etwa 10.000 Einwohner zuständig) als im Süden der Stadt (Luisenstadt, dem heutigen Kreuzberg), oder dem Bezirk Friedrichstadt, der heutigen "Mitte"), wo bis zu 50.000 Einwohner auf einen Armenarzt entfielen; im Mittel waren es, wie bei Carl, 20.000. Insgesamt gab es - ausweislich der Sozialstatistik jener Jahre - etwa 45.000 "Hausarme" (3,8% der Bevölkerung - 1878 waren dies noch 35.000 gewesen), die von den Armenärzten betreut wurden - also ohne die in Armenhäuser wohnenden Einwohner. Damit entfielen auf jeden Armenarzt im Mittel etwa 700 zu betreuende Patienten. Carls Reviere waren - 1885 und in den nachfolgenden Jahren - die Bezirke 84 und 93-97 mit insgesamt 19.800 Einwohnern (Abbildung 5).

Abb. 5

Ein Armenarzt behandelte üblicherweise Prostituierte (von denen es in Berlin um 1900 ca. 20.000 gab), an Sommerdiarrhöe leidende Kinder infolge verdorbener Milch, Waisenhaus-Pfleglinge, Leiden aufgrund schlechter Luft oder Schimmelpilzbildung in überhitzten Mietskasernen, Schwindsüchtige und Geschlechtskranke, Obdachlose, aber auch Arbeitslose und generell Menschen ohne Krankenversicherung (Anfang 1900 noch 85% der Bevölkerung), war für deren Medikamentenverordnungen, Krankschreibungen und Krankenhauseinweisung zuständig. Dazu mussten Armenärzte eine morgendliche Sprechstunde, üblich von 8 – 9 Uhr, einrichten und für Patienten ansprechbar sein. Darüber hinaus hatte der Armenarzt auch Ratgeberfunktion in Sachen Hygiene und Krankmeldungen; damit verbunden war auch eine Überwachungsfunktion mit entsprechender Meldepflicht.

Ein Armenarzt wurde - nach Ausschreibung der Stelle im Gemeindeblatt und Bewerbung durch den Arzt - von der Armenverwaltung des jeweiligen Bezirks eingestellt und erhielt ein Einkommen, die Amtszeit eines Armenarztes betrug in der Regel drei Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl - manche Armenärzte haben dies, wie Carl, für 20 Jahre und länger gemacht, andere sind nach nur einem Jahr wieder ausgestiegen.

Die Ausgaben für Gehälter aller Armenärzte betrug in Berlin für das Jahr 1888 insgesamt 82.290 RM (8), sowohl das Budget wie die Zahl der Armenärzte war zwei Jahre zuvor (1886) erhöht worden. Aus diesem Budget wurden 1885 - 1888 die 63 Armenärzte bezahlt, d.h. deren Jahresgehalt betrug um die 1.300 RM. Dies entsprach dem Durchschnittsgehalt eines technischen Angestellten in der Industrie, und war dem eines angestellten Arztes durchaus gleichwertig: Die mehr als 100 Ärzte des Gewerkschaftskrankenvereins erhielten als Durchschnittsgehalt 1.400 Mark, Berufsanfänger aber deutlich weniger. Nach anderen Quellen war das Anfangsgehalt eines Assistenzarztes mit 1.200 Mark deutlich unter dem des Armenarztes (9). Davon konnte eine Person zu dieser Zeit offenbar leben, wahrscheinlich sogar eine Familie gründen und ernähren.

Ob sich Carls Situation verbesserte, als er am 18. Dezember 1899 zum "Sanitätsrat" ernannt wurde, ein nicht-akademischer Titel, den das preußische Gesundheitsministerium (besser: Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten) für mindestens 20-jährige Verdienste im öffentlichen Gesundheitswesen verleihen konnte, wissen wir nicht, aber sicher half es ihm, Privatliquidationen zu erzielen.

Aus der Akte des Ministeriums für die Jahre 1898 - 1899, gefunden im Geheimen Preußischen Staatsarchiv (Berlin-Dahlem, Archivstraße 12-14, https://www.gsta.spk-berlin.de) (10), das so gar nicht geheim ist, wissen wir: Von den ca. 2.500 Ärzten in Berlin des Jahres 1898 hatten 25 den Titel Sanitätsrat, davon wiederum ein geringer Teil den des "Geheimen Sanitätsrates" – und dieser Prozentsatz ist in allen Regierungsbezirken Preußens etwa gleich, kein Titel also für Dr. Jedermann. Vorschlagsrecht hatten Ministerialbeamte, aber auch Gemeindevorsteher und andere Amtspersonen konnten entsprechende Vorschläge machen. Die Vorschlagsliste des Ministeriums ging dann als erstes an den Polizeipräsidenten in Berlin zwecks sozialer Überprüfung, vor allem aber, um zu erfahren, ob der Arzt auch bereit war, die damit verbundenen 300 Mark "Stempelgeld" zu bezahlen - schon die preußische Bürokratie ließ sich solche als privat angesehenen Privilegien offenbar gern bezahlen und erhob deftige Gebühren (zum Vergleich: das war ein Viertel des Jahresgehaltes eines Armenarztes in diesen Jahren und 5% seines Jahreseinkommens - s. unten). Dazu war nicht jeder Arzt bereit oder in der Lage: In einem Schreiben des Polizeipräsidenten an den Minister schildert dieser, dass diese Erkundungen manchmal von der örtlichen Schutzpolizei durchgeführt wurde, was den einen oder anderen "Erwählten" abgeschreckt haben mag.

Die Einschaltung des Polizeipräsidenten hatte aber sicherlich noch einen anderen Hintergrund: Im Falle von Dr. Lüderitz schreibt der Polizeipräsident am 15. Februar 1898:
"Dr. Lüderitz ist nicht verheiratet, lebt in geordneten Verhältnissen (hat ein Jahreseinkommen von 5.500 bis 6.000 Mark und ein Vermögen von 24.000 bis 28.000 Mark. Politisch gehört er zur deutschfreisinnigen Vereinigung. In moralischer Beziehung hat er zu Ausstellungen keine Veranlassung gegeben.
Als Arzt erfreut er sich einer ganz guten Praxis, besonders in weniger bemittelten Kreisen der Bevölkerung, er ist auch langjähriger städtischer Armenarzt und hat sich durch sein gründliches Wissen das Vertrauen seiner Kranken erworben. Am ärztlichen Vereinswesen nimmt er als Mitglied des Luisenstädtischen Ärztevereins sowie wissenschaftlicher Vereinigungen theil. Bei seinen Kollegen steht er im Ansehen.

In wissenschaftlicher Beziehung ist er eifrig und mit Erfolg tätig gewesen. Seine ersten Veröffentlichungen stammen aus einer Zeit, in welcher er in Jena als Assistent Nothnagels angestellt war, aber auch später, als er in das eigentliche, praktische Leben eingetreten war, bestätigte er fortgesetzt eine Vorliebe für wissenschaftliche Forschung. Er hat auch nachher wiederholt in staatlichen Laboratorien gearbeitet und seine Ergebnisse in Pflügers Archiv, in Virchows Archiv, in der Zeitschrift für klinische Medizin, in der Zeitschrift für Hygiene veröffentlicht, auch befand er sich auf den ärztlichen Kongressen zu Berlin unter den Vortragenden. Seine Arbeiten sind meist physiologischer Natur, sie betreffen besonders die Darmperistaltik, behandeln aber auch praktische Fragen. Eine derselben ist anatomischer Natur und bezieht sich auf das Rückenmarksegment, eine andere Veröffentlichung betrifft bakterielle Forschungen und ist im Hygienischen Institute vorhanden" (10).

In einem weiteren Vorgang in der gleichen Akte schlägt der Polizeipräsident (18. April 1899) vor, einen an sich sehr verdienten Arzt aus der Auswahl für zwei weitere Jahre herauszunehmen, da er noch sehr jung sei und eine so frühe Auszeichnung insbesondere unter seinen älteren Kollegen Unruhe erzeugen könnte, die noch nicht ausgezeichnet worden sein - in einem Obrigkeitsstaat regelte die oberste Ordnungsbehörde (Polizei) offenbar auch Eifersüchteleien unter Privatleuten.

Carl zahlte und erhielt mit Datum vom 18. Dezember 1899 sein Patent als Sanitätsrat. Wie wir vom Polizeipräsidenten wissen, hatte er zusätzlich zu seinem Gehalt als Armenarzt einige Einnahmen (4.000 bis 4.500 Mark/Jahr), zumindest nachdem er seine wissenschaftlichen Forschungen um 1892 eingestellt hatte, dürfte ihm dazu die Zeit geblieben sein. Andererseits: "seine" Armenbezirke in der Berliner Luisenstadt waren mit 20 Ärzten für 20.000 Einwohner (1890) bereits damals eher überversorgt, reich kann er dort nicht geworden sein, vergleicht man sein Einkommen mit dem anderer Ärzte aus den Sanitätsratsakten dieser Jahre. Und dann verschwand Carl 1907 - für uns von einem Tag auf den anderen - aus Berlin, und es sollte Wochen dauern, bis wir seine Spur wiederfanden.

Quellen:

(1) Michael Schemann, Gunther Mai, Marcello Costa, Paul Enck. Translating Lüderitz: A forgotten seminal description of gastrointestinal peristalsis. Neurogastroenterol Motil (in press)

(6) Judith Hahn, Ulrike Gaida, Marion Hulverscheidt. 125 Jahre Hygiene-Institute an Berliner Universitäten. Eine Festschrift. Charité, Eigendruck, Berlin 2010

7) Julius Pagel. Zur Geschichte des Vereins Berliner Armenärzte. Berlin: Hirschwald Verlag 1904

(8) Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Festschrift, dargeboten den Mitgliedern der 12. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte von den städtischen Behörden. Berlin: Stuhrsche Buchhandlung 1885

(10) Geheimes Staatsarchiv, I HA Rep 76 VIII A, Nr. 865, Seiten 163 ff