Kindheit, Schule, Studium

Die Rekonstruktion der Lüderitz-Familiengeschichte (Übersicht - Teil 1)

Wenn man es genau betrachtet, war Dr. Carl Lüderitz (ab hier oft familiär Carl genannt) der erste wirkliche Akademiker in einer Kaufmannsfamilie, auch wenn sein Ur-Großvater Theologie studiert hatte, ebenso wie ein Großonkel. Dies ist insofern bedeutsam, als es anzeigt, dass seine Eltern den Wunsch gehabt haben müssen, ihren Kindern "Besseres" zu bieten, zumindest was die drei Jungen angeht. Wobei der Ältere, Albert, noch in die Kaufmanns-Fußstapfen der Vorväter trat und Bankkaufmann wurde, es aber immerhin in die Reichsbank und zum kaiserlichen Bankrat brachte. Für das Mädchen war ein anderer Weg vorgesehen, aber auch der lässt dieses Motiv erkennen.

Carl Lüderitz wurde am 14. Februar 1854 geboren und am 17. März des gleichen Jahres in der Jerusalem-Kirche getauft - seine Taufpatin war u.a. Alma Lüderitz, geborene Tarnovius aus Stettin, verheiratet mit Theobald Carl Albert, Bruder von Carls Vater; außerdem ein Fräulein Therese Toussaint (Kattunfabrik, Baumwolle) zu Schönweide - aufgrund der Verbindung der Familie Lüderitz zur französischen Kolonie (Hugenotten) in Berlin, etwas, was uns noch beschäftigen wird, insbesondere im Zusammenhang mit dem späteren, kollektiven Übertritt der gesamte Lüderitz-Familie zur französisch-reformierten Gemeinde im Jahr 1864 - da war Carl zehn Jahre alt.
Seit 1820 wohnte die Familie Lüderitz in einem eigenen Haus im Zentrum Berlins (heute Berlin-Mitte: Friedrichstadt, Markgrafenstraße Ecke Zimmerstraße (74/31) (Abbildung 1). Zur Schule ein Fußweg von 400 m, zum französischen Dom weniger als 1.000 Meter, bis zum Berliner Stadtschloss nur 2.000 Meter, die Familie Lüderitz lebte wirklich im Herzen der Stadt. Das hatte seinen Grund: Man zählte durch die Großmutter von Carl, Dorothee Henriette Lüderitz geb. Doussin zur französischen (Hugenotten-) Gemeinde. Die Hugenotten hatten in diesem Teil der Stadt ihr kulturelles und ökonomisches Zentrum, hatten Siedlungs-, Bau- und Gewerbefreiheit und Privilegien und ein Recht auf kulturelle Identität gewährt bekommen – dazu später mehr. Das Haus war 1776 errichtet worden und gehörte damit zur barocken Erstbebauung in diesem Teil der Stadt, in der letzten Ausbaustufe der Friedrichstadt – es wurde 1881 abgerissen und später, als die Familie Lüderitz bereits woanders wohnte, durch ein größeres Haus mit mehr Etagen ersetzt.

Abb. 1

Wir wissen nicht, wo Carl und seine Geschwister (Albert, *1850, Elisabeth, *1858, Hermann, *1864) zur Grundschule gingen, auch nicht, wo Albert seine Kaufmannsausbildung absolvierte, aber Carl (und auch Hermann später) gingen zum Friedrich-Wilhelm Gymnasium "um die Ecke", das 1811 aus der Königlichen Realschule entstanden war, einer Gründung des Pietisten Johann Julius Hecker im Jahr 1747. Es wurde zum führenden humanistischen Gymnasium in Preußen, mit einer langen Liste auch heute noch bekannter Schüler (z.B. Reichskanzler Otto von Bismarck) und Lehrer (z.B. den "Turnvater" Johann Jahn), und hatte mehr als 1.500 Schüler, als Carl einer von ihnen wurde (1866).

Auch über seine Schulleistungen ist wenig bekannt, nur seine gesammelten Deutschaufsätze kennen wir (und werden diese später genauer betrachten) sowie deren Noten, die zwischen sehr gut und mittelmäßig lagen und an denen es nicht gelegen haben kann, dass er im Sommer 1869 ein Semester (= ein Halbjahr) in der Obersekunda wiederholen musste (für diejenigen, die es nicht mehr wissen: die Obersekunda ist die heutige Jahrgangsstufe 11 beim Abitur nach 13 Jahren), also zwei Jahre vor dem Abitur, das er im Februar 1872 ablegte. Dabei erhielt der Oberprimaner Carl Lüderitz im November 1871 einen Schulpreis für eine "feierliche Rede" zum Reformationsfest, wie die Schulchronik vermerkt. Einer späteren (1910) eigenen Aussage zufolge ((2), Seite 106) hätte er gern ein künstlerisch-musisches Fach studiert, aus der gleichen Quelle wissen wir, dass er leidlich Klavier spielen konnte, und wie wir noch sehen werden, hatte er durchaus eine Händchen zum Zeichnen, wenngleich nicht das Talent seiner Schwester. Aber sein Vetter Hermann Nothnagel - sein ganz großes akademisches Vorbild - hatte ihn letztendlich überzeugt, lieber Medizin zu studieren. Zwischen Schule und Studium schob er eine Harzreise, über die wir gesondert berichten werden.

Und so schrieb sich Carl am 6. April 1872 an der 1809 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität-Universität zu Berlin ein (Abbildung 2), Student Nr. 852 in diesem akademischen Jahr, das vom Wintersemester bis zum Sommersemester des nächsten Jahres reichte. Zwei Jahre später wechselte er nach Jena (WS 1874/75 und SS 1875) – denn dorthin war Herman Nothnagel berufen worden auf den Lehrstuhl für Physiologie! Seine Familie muss ihn finanziell unterstützt haben, da für Studium, Promotion und Habilitation Gebühren zu entrichten waren (Statut der Universität Jena von 1883). Das Studium der Medizin in Jena kostete 21 Mark bei der ersten Immatrikulation und 15 Mark für Veteranen. Das Geld wurde verwendet für: Universitätshaupthalle, philosophische Fakultät, Bibliothek, Kollegienkirche, Landkrankenhaus, Kollegienhauskasse, Depositor. Darüber hinaus musste bei einigen Lehrveranstaltungen das Honorar für den Professor bezahlt werden. Auch die Promotion (Doktorwürde in der Medizin und Chirurgie) am 25. April 1876 (Dr. med. et chir.), mit einer klinischen Arbeit über die progressive Muskelatrophie (3) kostete mehrere 100 Mark (von der Kaufkraft her etwa 1:50 nach heutigem Wert). Die anschließende Habilitation war ebenfalls mit nicht näher bezeichneten Kosten verbunden.

Abb. 2

Folgende Lehrveranstaltungen mussten an der Universität Jena belegt werden: von den propädeutischen Fächern Enzyklopaedie und Methodologie, Naturgeschichte und Botanik, Chemie und Pharmazie, Anatomie, Physiologie und Anthropologie, Psychologie, Geschichte der Medizin. Vorlesungen über die eigentlichen medizinischen Wissenschaften waren: Allgemeine und besondere Pathologie, Semiotik, Arzneimittellehre, Formulare, allgemeine und besondere Therapie, Chirurgie, Verbandslehre Ophthalmologie, Entbindungskunst, Klinik, Tierarzneikunde, Staatsarzneikunde.

Am 17. Mai 1880 richtete Carl an die Medizinische Fakultät in Jena das Gesuch, sich als Privatdozent für das Fach Innere Medizin habilitieren zu dürfen. Der Anatom Wilhelm Müller (1832 - 1909) erstellte das positive Gutachten zur Habilitationsschrift. Die öffentliche Verteidigung erfolgte zur Zufriedenheit der Fakultät am 11. Juni 1880. Mit Schreiben des Großherzoglich Sächsischen Staatsministeriums wurde am 29. Juni 1880 die Genehmigung der Habilitation an der Medizinischen Fakultät für das Fach Innere Medizin erteilt. Ab dem Wintersemester 80/81 bis einschließlich Wintersemester 81/82 hielt er als Privatdozent Lehrveranstaltungen ab. Im WS 1880/81 und WS 1881/82 war er der einzige Privatdozent an der Medizinischen Fakultät. Im SS 1881 hatte die Medizinische Fakultät neben ihm nur noch den Privatdozenten Kuhnt. Carl verließ Jena 1882 und ging zurück nach Berlin, als parallel Nothnagel ebenfalls aus Jena wegging, um einen Ruf nach Wien anzunehmen (auch dazu später noch mehr). Bevor wir Carl nach Berlin folgen, noch ein paar Anmerkungen zum Militärdienst und zur klinisch ärztlichen Ausbildung, wie sie 1882, sicherlich nicht nur in Jena, üblich war.

Quellen:

(2) Max Neuburger. Hermann Nothnagel - Leben und Wirken eines Deutschen Klinikers. Rikola Verlag, Wien 1922

(3) Carl Lüderitz. Beitrag zur Lehre der progressiven Muskelatrophie. Inauguraldissertation, Jena 1876