Lebensabend

Die Rekonstruktion der Lüderitz-Familiengeschichte (Übersicht - Teil 4)

Wir haben Carl dann auf zwei verschiedenen Wegen - und nahezu gleichzeitig - wiedergefunden, beide sind typisch für die Art und Weise wie Recherchen manchmal laufen: lange Zeit langweiliges Durchforsten von Akten und Dokumenten, und dann plötzlich Überraschungsfunde, wo man sie eher nicht erwartet.

Weg 1 (der systematische): Auf der Suche nach weiteren Publikationen von Carl hatten wir auch das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB, https://www.zvab.com) durchforstet und waren dort auf eine uns bislang unbekannte Publikation aus dem Jahre 1910 gestoßen (Carl Lüderitz: Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen. Berlin, Hirschwald Verlag 1910), eine sehr späte Publikation, die auch in anderen Medien besprochen wurde, nicht immer allerdings positiv (11). Die musste erst besorgt werden (gekauft, es gab sie in keiner Bibliothek), und im Vorwort gab Carl dann preis dass er in Waldsieversdorf, im Märkischer Oderkreis, ca. 50 km östlich von Berlin wohnt.

Weg 2 (der zufällige): Bei einer weiteren (der x-ten) Google-Recherche, diesmal nach "Sanitätsrat Lüderitz" tauchte weiter hinten in der Listung der Suchergebnisse eine Quelle auf, auf die wir nie im Leben gekommen wären: In einem Buch von Ute Lissa & Rosemarie Brüning über ihren Vater Paul Brüning (12), in dem sie seine Lebenserinnerungen berichten, erwähnt er (Seite 27), dass er 1922 seine zukünftige Frau in der Kindermannstraße 28 in Waldsieversdorf kennengelernt hat, im Haus des Sanitätsrates Dr. Lüderitz, da dieser im Obergeschoss seines Hauses einen Raum an Lehrer*innen des Pädagogiums in Waldsieversdorf vermietete. Paul Brüning erwähnt auch, dass die "Dame des Hauses" den Kaffee serviert hätte ... sollte Carl Lüderitz also doch eine Familie gegründet haben?

Wenn man heute nach Waldsieversdorf kommt - nach eher mühsamer Anfahrt aus Berlin über die B1 Richtung Frankfurt/Oder, etwa auf halber Strecke - kommt man in ein eher langweilig anmutendes Nest von vielleicht 800 Einwohnern, jedoch idyllisch an einem See gelegen, und mit ein paar recht eindrucksvollen Häusern wie sie eher typisch sind für die Landschaft des Märkischen Oderlands. Wenn man´s nicht weiß, fährt man leicht auf der B1 daran vorbei, aber für Berliner war dieser Teil der Umgebung immer auch Naherholungsgebiet, die Märkische Schweiz wurde auch von Fontane bewandert und beschrieben. Der Ort selbst wirkt geplant, und das ist er auch: es handelt sich um die 1895 gegründete Villensiedlung des Ferdinand Kindermann, über die wir noch gesondert berichten werden. Im Jahr 1910 hatte Waldsieversdorf 378 Einwohner, einer davon war Carl.

Und was ist mit der "Dame des Hauses"? Unsere erste Informationsquelle für Waldsieversdorf, das vor 1907 Wüste Sieversdorf hieß, waren ein rühriger, leider 2019 verstorbener Heimatforscher, Dr. Otfried Schröck (13) und sein Freund Bosdorf, heute 80-jähriger Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Waldsieversdorf - er hatte Carl nicht mehr erlebt, wusste aber zu berichten, dass nach dem 2. Weltkrieg im Nachbarhaus Kindermannstraße 28 die "Tante Ida" wohnte, die Haushälterin des Armenarztes war. Diese Ida Kreutzfeld, 24 Jahre jünger als Carl, soll später noch eine eigene Geschichte bekommen, nicht zuletzt, weil sie und ihre Lebensdaten zu vielen Spekulationen und Phantasien Anlass geben. Hier nur soviel: Sie starb im Jahre 1966 (88-jährig) in der Alterspsychiatrie in Eberswalde. Sie war es auch, die den Tod von Carl Lüderitz meldete: Carl Lüderitz starb am 16. November 1930 in seinem Haus in Waldsieversdorf, er wurde 76 Jahre alt, laut Sterbeurkunde des Standesamtes Buckow, zu dem der Ort gehört.

Was hat der Sanitätsrat Lüderitz zwischen 1907 und 1930 in Waldsieversdorf gemacht, warum ist er überhaupt dorthin gezogen? Unsere erste Idee, er könne wegen des dort zwischen 1906 und 1908 von Ferdinand Kindermann gegründeten Sanatoriums nach Waldsieversdorf gezogen sein, um einen sicherlich ruhigeren Posten als den eines Armenarztes in Berlin anzutreten, aber dies erwies sich schnell als falsche Spur: Sanatoriumsarzt dort war Dr. Otto Friederich aus Müncheberg, der 1899 die Tochter von Kindermann geheiratet hatte. Auch in der Umgebung, in den vielen kleinen und größeren Orten der Märkischen Schweiz, fand sich keine Spur von Carl als Land-, Dorf- oder Stadtarzt – das hätte (uns) irgendwie auch nicht gepasst. Erst das liebe Geld brachte uns auf die richtige Spur: Carl hat sich schlichtweg zur Ruhe gesetzt, wurde Privatier und half gelegentlich dem örtlichen Sanatoriumsarzt der Kindermannschen Villensiedlung (9). Dort verfasste er auch noch eine theoretische Arbeit (10) in Auseinandersetzung mit der sogenannten Monismus-Lehre des Deutschen Monistenbund.

Bleibt die Frage, was Carl Lüderitz in den mehr als 25 Jahren seines Lebens auf dem Dorf gemacht hat, wenn Geld verdienen keine Notwendigkeit war. Leider liegen uns darüber nahezu keinerlei Auskünfte vor, bis auf die letzte Publikation von 1910, die uns auf die Spur nach Waldsieversdorf brachte, und bislang ein wichtiger Brief aus dem gleichen Jahr - sie werden in einem eigenen Kapitel gewürdigt werden. Und ein Halbsatz in den bereits 1972 niedergeschrieben Erinnerungen des Enkels des Villenkolonie-Gründers Kindermann, Eberhard Friedrich, Sohn des Sanatoriumsarztes Otto Friedrich, wonach die ortsansässige  Schwester des Sanatoriums bei klinischen Notfällen "auch von meinen Vater und dem dort als Ruheständler noch etwas praktizierende Dr. Lüderitz zugezogen wurde" (15) - ganz konnte Carl die "Doktorspiele" offenbar nicht lassen.

Quellen:

(9) Yuri Winterberg, Sonja Winterberg. Kollwitz. Die Biographie. München: C.Bertelsmann 2015

(10) Geheimes Staatsarchiv, I HA Rep 76 VIII A, Nr. 865, Seiten 163 ff

(11) Carl Lüderitz. Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen. Verlag Hirschwald, Berlin 1910

(12) Paul Brüning. Worüber er sprach. Herausgegeben von Ute Brüning. Eigendruck,Lissa Brüning, Rosemarie Brüning, 2005 (Seite 27)

(13) Ottfried Schröck Ferdinand Kindermann und die Villenkolonie Wüste Sieversdorf / Wals-Sieversdorf. Die Geschichte der Gründung von Waldsieversdorf. Eigendruck, Waldsieversdorf 2008

(14) Ferdinand Kindermann. Villen und Landhäuser im Waldluftkurort Wüste Sieversdorf am grossen Däbernsee. Werbeprospekt (Eigendruck) Wüste Sieversdorf 1902

(15) Eberhard Friedrich. Waldsieversdorfer Ortsdokumentation 1895 - 1945. Eigendruck: Waldsieversdorf 2006 (Erstdruck 1979), hrsg. vom Waldsieverdorfer Heimatverein e.V.